Eine
Weihnachtsgeschichte
Das schwarze Auto kämpfte sich durch die
Dunkelheit. Die vor ihm fahrenden Fahrzeuge wirbelten das Wasser auf der Straße
auf, warfen es in Fontänen an seine Frontscheibe. Die Scheibenwischer
arbeiteten unermüdlich. Das Tief, dass sich seit Tagen über dem Atlantik
gesammelt hatte, entlud seine Fracht über dem Land.
Im Innern des Autos ein Ehepaar jenseits
der Jugend und ihre Hündin.
Das Navigationsgerät hatte eine Umleitung
vorgeschlagen – vor Lyon behinderte ein Stau die Fahrt der Reisenden, die gen Süden eilten.
Sie waren dieser Empfehlung gefolgt, fuhren
nun voller Vorfreude – in wenigen Stunden würde man im Süden Frankreichs in
einem Hotel schlafen. Die Vorfreude auf den Wind, der vom Meer wehen würde, auf
die salzgeschwängerte Luft, auf das Frühstück am Morgen mit knackigen
Croissants, die dort, scheinbar, wie nirgendwo sonst mundeten, war in ihnen. Am
anderen Tag würde man in Spanien sein. Die scharfzüngigen Blätter der Palme würden
im Meerwind knistern, sie würden sie wie stets bei ihrer Ankunft umarmen: wir
sind wieder da. Das Rauschen des Meeres würde auch dieses Mal durch die kleinen
Fenster des Hauses dringen, sie nach einer langen Fahrt in Träume tragen.
Die Fahrt führte sie durch eine einsame
Gegend. Die Lichter an den Straßenseiten waren weniger geworden. Kaum einmal
ragte ein Kirchturm weihnachtlich beleuchtet aus der Dunkelheit. Im Lichtschein
der entgegenkommenden Autos konnten sie Bäume ausmachen, die an den Hängen der
hügeligen Gegend ihre Äste im peitschenden Regen bogen.
Sie fuhren angestrengt und voller guten
Mutes. Das Gespräch plätscherte dahin, während die nunmehr merklich in die
Jahre gekommene Hündin im hinteren Teil des Autos schlief.
„Was ist denn mit dem Auto los?“ Unbehagen
in der Stimme.
Sie schaute verwundert zur Seite: „Was ist
denn mit dem Auto?“
„Nichts geht mehr – der Motor – er zieht
nicht mehr. Er reagiert nicht mehr.“
„Was???“
Ein Blick auf die Tachoscheibe zeigte es:
„Verminderte Motorleistung.“ Die Tankanzeige zeigte Spritverbrauch in
unerhörter Menge.
Die Ruhe wich aus dem Auto – Panik machte
sich breit.
Nun fuhren sie auf dem Standstreifen mühsam
und langsam.
An den Straßenseiten Dunkelheit. Das
Navigationsgerät schwieg. Erst jetzt fiel es ihnen auf: schon lange war die
leitende Stimme aus dem Gerät verstummt.
Sie wussten nicht wo sie waren – irrten
durch die Dunkelheit.
„Der Motor wird doch wohl nicht verrecken!“
Seine sonst so ruhige Stimme klang angstvoll.
Verängstigt griff sie in die seitlichen Türgriffe,
so, als wolle sie den Wagen vorwärtsziehen.
Ein Autobahnkreuz nahte.
„Was machen wir??!!! Wenn wir mitten auf
dem Kreuz stehen bleiben?“
„Wir biegen ab.“
Nun rollte ihr Auto gen Italien. Hauptsache
weg von dem Straßenkreuz, auf das Autos von allen Seiten her zueilten.
Die Brücke, die sich weitläufig über ein
Tal spannte, überquerten sie mühsam. Noch 10 Kilometer bis zur Tankstelle.
Würden sie diese erreichen?
Wenige hundert Meter hinter der Brücke
rollte der Wagen aus – der Motor versagte – zum Glück nah einer Nothaltebucht,
in die sie das Auto rollen lassen konnten.
Da standen sie nun – entsetzt inmitten des
Dunkeln. Regen prasselte auf das Gefährt.
„Was sollen wir machen?“
Panisch griff sie zu ihrem Handy.
„Hoffentlich hat die Batterie noch Strom!“ Sie waren schon lange unterwegs,
ohne es geladen zu haben.
Sie riefen die Freunde an, die zu Hause
ebenfalls ihre Taschen packten für eine weihnachtliche Reise.“
Der Inhalt des Gespräches war voll Panik
und die Wörter verankerten sich nicht in ihrem Gedächtnis. Nur noch das
Unbehagen nistete sich in den Gedanken ein.
„Ich gehe zur Notrufsäule“.
Auf Socken stieg sie aus dem Auto. Die
Beine waren während der langen Fahrt angeschwollen. Sie griff sich die
Leuchtjacke, die auf dem Rücksitz lag und die sie vor einigen Jahren geschenkt
bekommen hatte, über die die Menschen ihres Heimatortes manchmal gelächelt
hatten, wenn sie grellgelb reflektierend bei Dunkelheit mit dem Hund den Abendspaziergang gemacht hatte. „Du
siehst aus, wie ein Müllwerker“.
Sie lief zur Notrufsäule, die am Ende der Notfallbucht leuchtend Hllfe versprach.
Sie schaute sich die Säule an. „Wie
funktioniert sie wohl“, überlegte sie, die Säule von allen vier Seiten
betrachtend. Sie tastete sie an den dunkleren Seiten ab – ihre Taschenlampe
stand auf dem Garderobentisch im heimischen Flur – sie hatten vergessen, sie
einzupacken.
Da fühlte sie den rettenden Knopf und
drückte ihn. Eine freundliche Männerstimme klang in der Sprache des Landes aus
der eisernen Säule..
Sie verstand kein Wort – französisch kannte
sie nur aus den Worten des Freundes.
„Ich verstehe kein Wort“.
„Aleman?“
„Qui“, dieses Wort war ihr geläufig, wenn
der Freund zu Hause ihr zu irgendetwas seine Zustimmung gab.
„Bitte beantworten Sie die Fragen nur mit
Ja oder mit Nein." Nun sprach eine weibliche Computerstimme zu ihr. Jetzt konnte
sie sagen, dass sie gestrandet waren, mitten auf dieser für sie unwegsamen
Bahn.
Ein Computer teilte ihr mit, dass Hilfe
kommen würde.
Verängstigt lief sie zum Auto zurück, die
Jacke triefend vor Regen.
Nun hieß es warten – neben dem Auto, das
sie verließen, um der Gefahr eines Auffahrunfalles zu entkommen. Sie standen im
halbhohen Gras, auf lehmigen Boden, der rasch an den Sohlen und Rändern der
Schuhe klebte. Die Hündin verängstigt und zitternd an ihrer Seite. Sie war zum
Glück folgsam aus dem Gefährt direkt an die Seite gesprungen, zu den
vorbeirasenden Autos abgesperrt durch den körperlichen Schutz ihrer Menschen.
Als der Abschleppwagen die Gegenseite der
Autobahn befuhr, am nahen Autobahnkreuz wendete und ihnen nahte, empfingen sie
ihn wie einen rettenden Engel. Der Fahrer strahlte Ruhe aus, die sich wie ein
Schutzmantel um sie breitete.
Die Verladung des PKWs auf die lange
Ladefläche des LKWs beobachteten sie nun ruhiger.
Nach kurzer Fahrt erreichten sie den Betriebshof
des Unternehmers, wo ein kleines Büro sie mit wohltuender Wärme empfing.
Nun hieß es den Kopf wieder frei zu
bekommen. Die Papiere im Handschuhfach des Autos belegten es: Beim Kauf vor wenigen Monaten
hatten sie eine Versicherung abgeschlossen, die genau solche Situationen
erträglicher machte. Eine vollumfassende Versicherung, die sowohl die
Reparatur, als auch die Unterbringung in einem Hotel, ja sogar die Rückreise
sicherte.
Die Verständigung mit dem jungen
Unternehmer war mühsam, er sprach kein Deutsch, wenig englisch und sie kein Französisch.
Aber der Freund im fernen Deutschland sprach dieses als seine Muttersprache. Er
war erreichbar. In einer Telefonkonferenz übersetzte er nicht nur von Telefonat
zu Telefonat die weiteren Schritte aus dieser misslichen Situation – er brachte
auch Ruhe in ihre Gedanken, seine Stimme umhüllte sie aus dem Hörer heraus wie
ein schützender Kokon.
Die Akkus ihrer Handys waren bedrohlich
leer. Auch die aufladbare Guthabenkarte ihres Handys bedeutete Unbehagen,
während seines das Guthaben automatisch füllte Aber es klappte!
Der Notdienst der Versicherung im fernen
München nahm Kontakt zu seinem französischen Kollegen auf. Man würde ein
Hotelzimmer besorgen, ihnen ein Taxi schicken, ihr Auto würde in eine Vertragswerkstatt
gebracht werden und nach der Reparatur zum Urlaubsort. Man versicherte
Zuversicht.
Im kleinen Aufenthaltsraum außerhalb des
Betriebshofes, direkt an der dunklen Grande Rue des Örtchens gelegen, durften
sie warten. Mittlerweile war der Abend fortgeschritten, kaum ein Auto befuhr
diese Straße, warf seinen Schein im Vorbeifahren auf ihre Gesichter.
Die Hündin zitterte auf dem kühlen Boden.
Sie breiteten ihre Jacken auf den Fliesen auf, das Tier kroch dankbar darauf.
Nun wurde die Tür aufgerissen. Ein älterer
Mann mit grimmigen Augen herrschte sie an. Sie verstanden nur „Assecuranz“ und
wie bedeutend hielt er seine Hand an das Ohr, so als würde er einen
Telefonhörer in den Händen halten. Sie sprach ihn auf Deutsch an. Barsch war
seine Antwort. Sie suchte englische Worte – er wurde ärgerlich, riss die
Papiere vom Tisch, dass einige zu Boden fielen, sich in der von den Schuhen
abgetropften Nässe verteilten.
Sie griff wieder zum Handy und wieder war
es der Freund, der rettend die richtigen Worte fand.
Nun durften sie weiter warten - auf das Taxi, in das sie endlich weit nach
Mitternacht stiegen und das sie in eine mehr als 50 Kilometer entfernte Stadt
brachte. Dort wurde ihnen die Pforte eines Hotels geöffnet, man hatte auf sie
gewartet. Wärmender, wohltuender Stuck des Jugendstils, geschwungene, eiserne
Treppenaufgänge geleiteten sie in ihr großzügiges Zimmer. Angekommen! Entronnen
dem Horror.
Dass die Hoteltür nach ihrem Gang mit dem
Hund verschlossen blieb, das rufende Klingeln der Schelle im Haus verklang,
brachte sie fast um ihre Fassung. Aber nur fast, denn ihr Mann schaute nach
einer Weile aus dem Fenster der 3. Etage, verwundernd und besorgt Ausschau nach
ihnen haltend. Er ließ sie hinein.
Die wenigen Stunden der Nacht verbrachten
sie schlafend und wachend, ihr Herz überschlug sich fast vor Dankbarkeit, ließ
sie kaum ruhen.
Im Morgendunkel ging sie wieder mit der
Hündin durch die Straßen dieser schlafenden Stadt. Nur der Feinkosthändler an
der Ecke schnitt sorgsam den Lachs für den bevorstehenden Festtag, legte ihn
auf silberne Tabletts nah des erleuchteten Ladenfensters. Sie ging gemächlich,
genoss den beleuchteten Weihnachtsschmuck über den Straßen, die Bauten, die
Auslagen der kleinen Geschäfte.
Das Frühstück in diesem herrlichen
Frühstücksraum, von Kronleuchtern beschienen, in Spiegeln verdoppelt, machte
ihnen Mut für den kommenden Tag.
Da machte es nichts, dass das Telefonat am
Morgen die Fahrt ihres PKWs nur zum Heimatort offenbarte, sie sich zugegeben
traurig entschieden, die Reise in den Süden zu unterbrechen und heimwärts zu
fahren.
Die Fahrt in dem Taxi zum Flughafen, 70
Kilometer entfernt, wo der zur Verfügung gestellte Leihwagen bereit stand, war
fast Entspannung. Nun meinten sie auch die Barschheit des alten
Transportunternehmers zu erkennen: Hinweisschilder erzählten vom großen
deutschen Soldatenfriedhof nahe der durchfahrenen Stadt. Hier hatte der Krieg gewütet,
und nicht nur deutsche Soldaten waren gefallen, auch in vielen heimischen
Familien hatte er Lücken gerissen, Trauer und Verzweiflung gebracht.
Zum Standort ihres PKWs leitete das
Navigationsgerät sie in ihrer Muttersprache. Das Gepäck aus dem Jetbag auf
ihrem PKW ließ sich mühelos im großen Kofferraum des Leihwagens verstauen.
Sogar der alte Abschleppunternehmer lächelte freundlich, als ihm die Flasche mit
gutem Tropfen, die für Freunde am Urlaubsort bestimmt war, überreicht wurde. Er
winkte ihnen nach. Ihr Auto würde nach erfolgter Reparatur die Rückreise bequem
auf der Ladefläche eines Autotransporters antreten.
Wehmütig ob des verhinderten Urlaubs, doch
voll Dankbarkeit, dass sie an ihrem Leben keinen Schaden erlitten, lenkten sie
kurz vor Mitternacht, kurz vor Beginn des Tages des Heiligen Abends den
Leihwagen unter das Dach des heimischen Carports. Die Sterne am Nachthimmel
über ihrem Haus strahlten hell. Sie waren beschützt worden!
Sie lächelte: ein heimlicher Wunsch war ihr
zudem erfüllt worden: wieder einmal in einem so richtig schönen Hotel zu
weilen, umhüllt von Stuck und Wohlbehagen. Aber sie nahm sich vor, sich zukünftig
das Denken solcher Wünsche zu versagen…. Manchmal gehen sie in Erfüllung.